echtLife März 2020
Seite 40 | März 2020 | echt Life Pflege: unterwegs am falschen Dampfer Die Pflegemisere ist in aller Munde. Um ein wenig Licht ins Dunkel der Argumente zu bringen, sprachen wir mit einem Pflegeprofi aus der Region über das Thema. Mathil- de Kristen, heute im Ruhestand, arbeitete erst als Kinderkrankenschwester am LKH Graz, dann als stellvertretende Pflegedienstleiterin im PflegeheimGratkorn und zuletzt 20 Jahre lang als Pflegedienstleiterin in der Parkresidenz Straßengel. echtLife: Frau Kristen, alle sind sich einig: Um mehr und neue Pflegekräfte zu gewinnen, muss für die Pflegeberufe ein besseres Image aufgebaut werden ... M. Kristen: Es tut mir leid, das kann ich nicht nachvollziehen. Ich hatte selbst nie den Ein- druck, dass ich als Pflegefachkraft nicht ge- nug Wertschätzung erfahren hätte. Hier habe ich eher den Eindruck, dass es an Selbstwert- gefühl fehlt. Viele sehen sich selbst als Pfle- gende zu sehr als Dienende statt als hochqua- lifizierte Fachkräfte. echtLife: Was halten Sie von dem bereits installierten FH-Studium für Gesundheits- und Krankenpflege? M. Kristen: In der Ausbildung hat man si- cher schon vor 20 Jahren sehr viel versäumt. Meiner Meinung nach vernünftig wäre ei- nerseits eine Fachschule, die man mit Matu- ra abschließt und in der man fünf Jahre Zeit hat, theoretisches und praktisches Wissen zu vermitteln. Theorie heißt etwa Anatomie und Pathologie, Praxis heißt, dass es sehr viel Handgriffe gibt, die man nur am Menschen und von einer Lehrenden begleitet einüben kann. Da hätte auch ein Lehrberuf seinen Sinn. Bei der FH fehlt aber genau dieser Praxisbezug, befürchte ich. echtLife: Welche Pflegberufe gibt es aktuell eigentlich? M. Kristen: Pflegeassistenz, Pflegefachassis- tenz, Diplom-Gesundheits- und Kranken- pflege, Pflegedienstleitung. In der Praxis führt diese Vielfalt zu einem Problem: Jeder Beruf darf bestimmte Tätigkeiten ausüben, andere nicht. Für den Pflegebedürftigen bedeutet das, dass bei Problemen nicht eine Fach- kraft kommt, sondern drei hintereinander, weil jede etwas anderes tun darf. Wenn dann alle Teilzeit arbeiten und wenn der Pflegebe- dürftige diese Betreuung in der Früh und am Abend benötigt, sind das sechs unterschiedli- che Personen, die an ihm arbeiten. Patienten- orientiert ist das sicher nicht. echtLife: Wie groß ist eigentlich der bürokratische Aufwand in der Pflege? Es wurde doch, nach einigen großen Pflegeskandalen, eine umfassende Dokumentationspflicht eingeführt. M. Kristen: Mit der Dokumentation hat man aber keine Probleme gelöst. Pflegemängel be- ruhen auf Überlastungen und denen begeg- net man nicht mit Bürokratie, sondern mit Supervision und guten Arbeitsbedingungen. Die Dokumentationswut hat vor allem zwei negative Folgen: Erstens verbringt man täg- lich 20 bis 30 Minuten mit dem Ausfüllen von Protokollen pro Klient. Ist man für zehn Klienten zuständig, sind das fünf Stunden. Und diese Zeit fehlt klarerweise bei der per- sönlichen Betreuung. Zweitens leidet der In- formationsfluss: Anstelle mich bei Dienstan- tritt über das wirklich Wichtige zu einzelnen Klienten zu informieren, muss ich die Doku- mentationen zu allen Klienten durchschauen. Das ist entsprechend oberflächlich und nicht im Sinne der Klienten. echtLife: Sollten diese Dokumentationen nicht eher das Personal gegen Vorwürfe von außen absichern? M. Kristen: Das ist schon richtig. Aber es führt auch dazu, dass ich der Dokumenta- tion stärker verpflichtet bin als dem Klien- ten. Man wird dazu verleitet, Verantwor- tung abzuschieben. Ein Beispiel: Früher hast du als Pflegekraft einen Arzt nur dann angerufen, wenn es wirklich nötig war. Der hat dann auch sofort reagiert bzw. gab eine Anweisung. Jetzt ruft man den Arzt nicht nur an, sondern man muss ein Fax schi- cken, weil man wegen jeder kleinen Anord- nung eine dokumentierbare Unterschrift benötigt. Das stiehlt allen und den Klienten allen voran viel Zeit. echtLife: Wie ist das Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Angehörigen? M. Kristen: Die Angehörigen muss man un- bedingt mit ins Boot holen. Sie müssen den Zustand des Klienten ebenso verstehen wie die erforderlichen Pflegemaßnahmen, nur dann kann man an einem Strang ziehen. Aber auch das braucht mehr Zeit und die ist immer weniger da. echtLife: Wie stehen Sie zur 35-Stunden-Woche? M. Kristen: Da bin ich zwiespältig. Auf der einen Seite hilft das den Frauen – und Pflege ist weitgehend ein weiblicher Beruf – Arbeit, Familie, Kinder und Zeit für sich selbst unter einen Hut zu bekommen. Und das wäre schon wichtig: Ich kenne zu viele Pflegerinnen, die Alleinerzieherinnen sind, weil Partnerschaf- ten mit diesen Dienstzeiten schwierig sind. Auf der anderen Seite wird es komplizierter, Dienstpläne zu erstellen. Über 24 Stunden ge- dacht braucht man dann wohl statt zwei eher drei Schichten. Damit wird auch die Arbeit der Pflegedienstleiterinnen noch wichtiger, denn sie sind es, die die Teams beieinander halten müssen, Dienstpläne abstimmen und eine klare Richtung vorgeben. Es ist ein be- sonderes Unding, wenn eine Pflegedienstlei- tung für mehrere Häuser zuständig ist, denn dann fehlt vor Ort die Ansprechpartnerin. Das kann dann nicht mehr funktionieren, das gehört gesetzlich abgestellt. echtLife: Wir danken für das Gespräch! Andreas Braunendal im Gespräch mit Mathilde Kristen
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